Spermidin und sein therapeutisches Potenzial

Experten verschiedenster Disziplinen der Medizin haben sich im November 2019 und im September 2020 über das therapeutische Potenzial von Spermidin ausgetauscht, das sich auch aus seiner Eigenschaft als Autophagie-Auslöser ergibt. „Spermidin und Fasten“ war der Titel der ersten Veranstaltung, „Spermidin – Lifestyle-Medikament oder mehr?“ der Titel der zweiten. Beide Titel machen die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Treffen deutlich. Die erste Expertenrunde diente der Annäherung an Spermidin und sein mögliches Potenzial für die Medizin. Bis zur zweiten Sitzung war die Rolle der Autophagie und deren Auslösung durch Spermidin für die Behandlung unterschiedlicher Krankheitsbilder Thema umfangreicher Forschung geworden. Und neben der Wissenschaft war auch die Öffentlichkeit zunehmend auf Spermidin aufmerksam geworden, denn es kamen vermehrt spermidinhaltige Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt.

Die zweite Expertenrunde konnte bereits auf einer deutlich größeren wissenschaftlichen Erkenntnisgrundlage diskutieren.. Entsprechend war in der ersten Sitzung die Einschätzung des Potenzials von Spermidin für die Medizin eher genereller Natur. In der zweiten Sitzung wurden die Experten konkreter und tauschten sich über die Chancen aus, die Spermidin zur Therapie bestimmter Erkrankungen bieten kann. Viele dieser Bewertungen fußen auf Tiermodellen. Wiederholt betonten die Mediziner, dass zur Bestätigung der positiven Tierstudien weitere Humandaten wünschenswert wären.

Die Ergebnisse der beiden Expertenrunden im Überblick:

Spermidin und das Altern

Spermidin ist als körpereigene Substanz in allen Zellen des menschlichen Organismus vorhanden. Der Spermidinspiegel nimmt jedoch ab dem Alter von 20 bis 30 Jahren fortlaufend ab. Seine Rolle für das generelle Altern legt die Erkenntnis einer Studie nahe, in der 90- bis 100-Jährige einen ähnlich hohen Spermidinspiegel wie die Vergleichsgruppe im Alter zwischen 31 und 56 Jahren hatten und damit über den Werten der 60- bis 80-Jährigen lagen. Auswertungen von Daten der sogenannten Bruneck-Studie zeigten zudem: Personen mit einer spermidinreichen Nahrung lebten im Durchschnitt um fünf Jahre länger.

Spermidin und das Immunsystem

Spermidin kann über seine Autophagie anregende und auch seine entzündungshemmende Eigenschaft Immunantworten des Körpers beeinflussen. Nach einer Grippe-Impfung reagierten alte Mäuse mit einer reduzierten Entwicklung der Memory-T-Zellen, die für die langfristige Immunabwehr notwendig sind. Diese verbesserte sich nach Gabe von Spermidin deutlich. Ebenfalls im Mausmodell zeigte sich, dass Spermidin die überschießende Immunantwort des Körpers hemmen kann.

Ein aktueller Bezug: Auch bei COVID-19-Erkrankungen spielen die Fähigkeit zur Autophagie bei der Virusbekämpfung und die Behandlung überschießender Immunreaktionen eine wichtige Rolle. Hinweise zu Möglichkeiten einer Therapie sahen die 2020 versammelten Experten in den Ergebnissen einer präklinischen Studie, die jedoch noch einer klinischen Prüfung bedürfen: In der Vorabveröffentlichung berichteten die Forscher, dass die Behandlung von mit Corona infizierten Zellen mit Spermidin die Virusvermehrung um 85 Prozent senkte. Eine Vorbehandlung von gesunden Zellen mit Spermidin senkte die Ansteckung um 70 Prozent.

Spermidin in der Altersheilkunde

Der altersbedingte Rückgang des Spermidinspiegels hat das Interesse der Altersheilkunde (Geriatrie) an Spermidin und seiner Rolle bei der Entstehung von altersbedingten Erkrankungen geweckt. Noch ist offen, ob der Rückgang an der nachlassenden Fähigkeit des Körpers zur Spermidinproduktion liegt oder an der reduzierten externen Zufuhr, bedingt durch Kau- und Schluckdefizite alternder Menschen. Fasten zur Anregung der Autophagie und als Ersatz für fehlendes Spermidin kommt bei Menschen mit altersbedingten Erkrankungen jedoch nicht infrage, so die einhellige Auffassung.

Unterschiedlich bewerteten die Experten den Einsatz von Spermidin bei Alzheimer-Demenz. Im Jahr 2019 sahen die Mediziner vor allem präventives Potenzial in einer Einnahme bereits ab dem mittleren Alter, lange bevor sich erste Symptome einer Demenz zeigen. Die Expertenrunde 2020 sah jedoch eine Therapieoption mit Spermidin bei Demenz und bezog sich auf Untersuchungen, die gezeigt hatten, dass eine gezielte Einnahme eines spermidinreichen Weizenkeimextrakts die Gedächtnisleistung verbesserte.

Ebenso sprachen die Experten 2020 über die Möglichkeiten für die Medizin, die motorische Beeinträchtigung von Patienten mit Morbus Parkinson mithilfe von Spermidin zu verbessern. Eine zu dieser Zeit in Planung befindliche Studie setzt an präklinischen Erkenntnissen an, dass mit Spermidin molekulare Ursachen der Erkrankung ausgeschaltet werden könnten, indem es das Nervensystem vor den Schädigungen schützt, die zu den motorischen Einschränkungen führen und unter anderem in dem für Morbus Parkinson typischen Muskelzittern zutage treten.

Auch für die Immunoseneszenz, die im Alter nachlassende Funktionsfähigkeit des Immunsystems, sehen die Mediziner Therapiechancen mit Spermidin. Aufgrund seiner bereits erwähnten Rolle bei der Antwort des Immunsystems könnte eine vorübergehende Spermidingabe die Impfung älterer Menschen in ihrer Wirkung unterstützen.

Spermidin und der Stoffwechsel

Durch das Polyamin Spermidin angeregte Autophagie ist für die Mediziner ein möglicher Weg zur Gewichtskontrolle und zur Therapie von Stoffwechselerkrankungen. Grundlage für diese Annahme sind die Ergebnisse einer Studie, in der ein Zusammenhang gezeigt wurde zwischen ungesunder Ernährung mit zu viel Fett und Zucker und einer Fehlregulation des Polyaminstoffwechsels. Die daraus resultierende Störung der Autophagie beeinträchtigt die Freisetzung von Insulin, das eine elementare Rolle im Stoffwechsel spielt.

In der Studie konnten übergewichtige Mäuse ihr Gewicht nach vierwöchiger Spermidingabe um 24 Prozent reduzieren, der Blutzuckerwert verbesserte sich. Eine weitere Studie hatte gezeigt, dass Mäuse, die nur eingeschränkt zur Autophagie fähig waren, trotz Fastens nicht angemessen Gewicht verloren.

Spermidin und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems

Auch für die Behandlung von Erkrankungen des Herzens und der Blutgefäße, also von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, vermuten die Mediziner in Polyaminen wie Spermidin ein großes Potenzial für Prävention und Therapie. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ergab durch die Auswertung von Daten aus 49 Ländern: Zugeführte Polyamine können das Risiko senken, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu bekommen oder daran zu versterben. Das bestätigen auch Daten der Bruneck-Studie, die einen Zusammenhang zwischen einer spermidinreichen Ernährung und einem deutlich niedrigeren Blutdruck sowie geringerem Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung zeigten.

Teilnehmer Experten-Board 2019:

Prof. Dr. Gunter P. Eckert, Gießen

Prof. Dr. Lutz Frölich, Mannheim

Prof. Dr. Frank Madeo, Graz

Prof. Dr. Johannes Pantel, Frankfurt

Prof. Dr. Klaus Parhofer, München

Prof. Dr. Stephan Sigrist, Berlin

Teilnehmer Experten-Board 2020:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Heidemarie Abrahamian, Wien

Univ.-Prof. Dr. Heinz Burgmann, Wien

Ass.-Prof. Dr. Tobias Eisenberg, Graz

Univ.-Prof. Dr. Sylvia Knapp, Wien

Prim. Univ.-Prof. Dr. Ludwig Kramer, Wien

Univ.-Prof. Dr. med. Jan D. Lünemann, Münster

Univ.-Prof. Dr. Frank Madeo, Graz

Univ.-Prof. Dr. Rainer Oberbauer, Wien

Prim. Honorarprofessor Dr. Gerald Ohrenberger, Wien

Univ.-Prof. Dr. Andrea Podczeck-Schweighofer, Wien

Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Elisabeth Stögmann, Wien

Univ.-Prof. Dr. Michael Wolzt, Wien