Spermidin – Gestern, Heute und Morgen

Spermidin – Gestern, Heute und Morgen

Die Entdeckung von Spermidin geht auf den niederländischen Naturwissenschaftler Antonie Van Leeuwenhoek (1632 – 1723) zurück. Eigentlich ist Van Leeuwenhoek bekannt für seine technischen Weiterentwicklungen von Mikroskopen. Also Geräten, die eine Vergrößerung kleinster, manchmal mit dem bloßen Auge gar nicht sichtbarer Strukturen ermöglichen. Im Alter von 41 Jahren entdeckte er so zum Beispiel einzellige Pflanzen und Tiere. Und nur zwei Jahre später, 1676, erlaubten ihm seine selbstgebauten Mikroskope auch noch kleinere Strukturen, nämlich Bakterien, zu studieren. Eine Beobachtung, welche anderen Wissenschaftlern erst 100 Jahre später erneut gelingen sollte (1).

Antonie van Leeuwenhoek

Antonie Van Leeuwenhoek entdeckte Spermidin erstmals in der Samenflüssigkeit.

Van Leeuwenhoek war seiner Zeit voraus: Kein Wunder also, dass er mit Spermidin schließlich eine Substanz entdeckte, die uns bis heute beschäftigt und fasziniert. Im Jahr 1678 konnte er mit Hilfe seiner selbstgebauten Mikroskope Kristalle in der Samenflüssigkeit sehen. Dass es sich dabei um Spermidin handelt, war dem Naturforscher jedoch noch nicht bewusst (1).

Die Isolation und Beschreibung von Spermidin sollte erst mehr als zwei Jahrhunderte später erfolgen. Im Jahr 1927 gelang diese den Biochemikern Dudley, Rosenheim und Starling erstmals (2). Mittlerweile, fast 100 weitere Jahre später, hat sich viel getan. So weiß man inzwischen, dass Spermidin in fast allen Körperzellen vorkommt. Auch bei Pflanzen und Tieren findet sich Spermidin. Die Substanz ist jedoch weit mehr als ein Überbleibsel vergangener Pionier-Studien. Vielmehr ist Spermidin heute von vielversprechender therapeutischer Relevanz und deshalb eines der am meisten untersuchten Moleküle weltweit.

Molekül mit Potential

Das große therapeutische Potential von Spermidin wurde durch Zufall vom renommierten Altersforscher Univ.-Prof. Dr. Frank Madeo im Jahr 2009 entdeckt. Bei Versuchen zur Langlebigkeit an Hefen fiel ihm und seinem Team ein besonderer Einzeller auf. Dieser wurde deutlich älter als seine Artgenossen. In weiteren Experimenten konnten die Forscher klären, dass diese Hefe zugleich besonders hohe Konzentrationen von Spermidin enthielt. Basierend auf dieser Entdeckung versuchte Prof. Madeo mit seinem Team zunächst die Hefen, später aber auch Würmer, Fliegen und Mäuse, mit Spermidin zu füttern. DasErstaunliche: dadurch lebten die Tiere länger. Die Forscher fanden heraus, dass Spermidin dies den gefütterten Tieren über eine Aktivierung der Autophagie ermöglicht (3).

Autophagie bezeichnet den Prozess der körpereigenen Zellregeneration. Neben der Autophagie führten die Forscher den gesundheitsfördernden Effekt von Spermidin auch auf eine Reduktion der sonst im Alter üblichen Überproduktion von Sauerstoffradikalen und weiteren Prozessen zurück (3). Die Autophagie ist der zentrale zelluläre Mechanismus mit dem unsere Zellen potentiell schädliche Bestandteile entsorgen und recyceln. Die Auswirkungen für mögliche therapeutische Einsatzgebiete, die sich daraus ergeben, allen voran der Demenz-Vorbeugung, sind enorm. Daher wundert es nicht, dass sich laut Prof. Madeo weltweit nahezu 100 Forschungsgruppen mit Spermidin beschäftigen.

Unser Wissen und gleichzeitig die Faszination an der Substanz Spermidin wächst mit jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung, die sich mit dieser Substanz beschäftigt. Seit der Isolation von Spermidin 1927 sind inzwischen fast 100 Jahre vergangen. Das große Interesse an Spermidin, nicht zuletzt befeuert durch die Verleihung des Nobelpreises für die Entschlüsselung der Autophagie 2016, spiegelt sich durch eine ungebremste Zunahme wissenschaftlicher Fachartikel zum Thema wider: 13.151 Ergebnisse zählt die Wissenschaftsdatenbank PubMed zum Suchbegriff Spermidin bis dato und es werden stetig mehr (4).

Wissenschaftliche Publikationen Spermidin

Wissenschaftliche Publikationen zu Spermidin seit der ersten Beschreibung im Jahr 1927.

Die Zukunft von und mit Spermidin

In einem kürzlich erschienen Artikel der renommierten Fachzeitschrift Nature Reviews Drug Discovery machten sich die Autoren auf die Suche nach den vielversprechendsten Anti-Aging Substanzen unserer Zeit (5). Ein englischer Begriff der in diesem Zusammenhang immer wieder fällt, ist die sogenannte „Healthspan extension“, also die Verlängerung unserer Gesundheitsspanne. Was ist damit gemeint?

Wohl kaum jemand möchte ewig leben. Und auch die Altersforscher streben nicht nach der Entdeckung von Substanzen, die uns das ewige Leben schenken. Vielmehr steht im Fokus, die Zeit möglichst lange zu erhalten, in der wir uns guter Gesundheit erfreuen dürfen sowieaktiv und geistig fit am Leben teilnehmen können. In der Spitzengruppe der Substanzen, bei denen das internationale Forscherteam hierbei das größte Potential sieht, ist Spermidin (5). Die Kriterien, die eine Substanz für diesen Ritterschlag erfüllen musste, waren hart. Inzwischen liegen jedoch zahlreiche solide Daten vor, die Grund zur Hoffnung bieten, dass genau Spermidin eine Healthspan extension, also Verlängerung unserer Gesundheitsspanne ermöglichen könnte.

Der altersbedingte Abfall unserer körpereigenen Spermidinlevel steht in Verbindung mit einer Verkürzung unserer Gesundheitsspanne, könnte aber aufgehalten werden (6): Mittlerweile sind Lebensmittel bekannt, die besonders spermidinreich sind. Auch Nahrungsergänzungsmittel können dazu beitragen, der Leerung unseres Spermidindepots im Alter entgegenzutreten.

Mittlerweile ist in der Medizin ein klarer Trend zu erkennen: Besondere Bedeutung kommt der Prävention von Krankheiten zu. Das Investment in Präventionsmaßnahmen an Stelle der Behandlung bereits ausgebrochener Krankheiten könnte die Medizin revolutionieren und sich für den Einzelnen sowie gesamtgesellschaftlich auszahlen (5).

Quellen

(1) Méndez JD The Other Legacy of Antonie Van Leeuwenhoek: The Polyamines. J Clin Mol Endocrinol (2017)
(2) Dudley HW, Rosenheim O, Starling WW. The Constitution and Synthesis of Spermidine, a Newly Discovered Base Isolated from Animal Tissues. Biochem J. (1927)
(3) Eisenberg T, Knauer H, Schauer A, et al. Induction of autophagy by spermidine promotes longevity. Nat Cell Biol. (2009)
(4) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=spermidine&sort=date&timeline=expanded
(5) Partridge, L., Fuentealba, M. & Kennedy, B.K. The quest to slow ageing through drug discovery. Nat Rev Drug Discov (2020)
(6) Madeo F, Bauer MA, Carmona-Gutierrez D, Kroemer G. Spermidine: a physiological autophagy inducer acting as an anti-aging vitamin in humans? Autophagy (2019)