Zellfrisch Podcast - Nina Ruge im Gespräch mit Bettina Tietjen

Zellfrisch Podcast – Folge 2

Demenz – wer hilft
Betroffenen und Angehörigen?

Nina Ruge im Gespräch mit Bettina Tietjen, NDR-Talkshowmoderatorin und Autorin des Buches „Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich“

Zellfrisch Podcast - Nina Ruge im Gespräch mit Bettina Tietjen

Zellfrisch Podcast – Folge 2

Demenz – wer hilft
Betroffenen und Angehörigen?

Nina Ruge im Gespräch mit Bettina Tietjen, NDR-Talkshowmoderatorin und Autorin des Buches „Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich“

Die Köpfe dahinter

NINA RUGE

Sie ist Moderatorin, Wissenschaftsjournalistin, Biologin und Buchautorin: Nina Ruge. In ihrem aktuellen Buch „Altern wird heilbar: Jung bleiben mit der Kraft der drei Zellkompetenzen“ beleuchtet sie gemeinsam mit dem Forscher Dr. Dominik Duscher Alterungsprozesse im Körper, altersbedingte Erkrankungen und wie wir solche Prozesse aufhalten können. In diesem Podcast möchte sie herausfinden, wie wir Demenz oder Alzheimer vorbeugen können, welche neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse es gibt und wie Betroffene und Angehörige mit der Diagnose umgehen. Hier ist Nina Ruge.

Nina Ruge: Der unvergessliche Podcast über Alzheimer und Demenz. Willkommen zur zweiten Folge mit dem Titel Demenz – Wer hilft Betroffenen und Angehörigen? Ich möchte wissen, wie ist das, wenn langsam, ganz langsam alles anders wird im Leben eines Menschen mit Demenz? Wie ist das, wenn gewohnte, ganz alltägliche Umgangsformen nicht mehr funktionieren? Wenn Angehörige, Partner, Freunde immer mehr verunsichert sind und ganz neues Verhalten lernen? Und wer kann helfen? Mein Gast hat ein berührendes Buch über genau diese Erfahrung mit ihrem Vater geschrieben. Und hier ist mein Gast. Ich freue mich besonders auf die wunderbare aus dem deutschen Fernsehen nicht wegzudenkende Moderatorin.

Bettina Tietjen

Bettina Tietjen startete ihre Karriere beim Radio, bei RIAS Berlin. Danach ging es zum Fernsehen. Seit den 1990ern moderiert sie unterschiedliche Talk-Formate und empfängt einmal im Monat prominente Gäste in ihrer Freitagabend-Talkshow im NDR. Ihr Vater litt an Demenz. Aus diesem Grund hat sie 2015 das Buch „Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich“ veröffentlicht, in dem sie ihre Erfahrungen mit der Krankheit als Angehörige schildert. Sie ist Kuratoriumsmitglied der Deutschen Alzheimer Stiftung, Schirmherrin der Deutschen Alzheimer Stiftung Hannover, engagiert sich in der Allianz für Menschen mit Demenz und ist Botschafterin der Initiative Demenz Partner. Bettina Tietjen.

Ungekürztes Manuskript

Nina Ruge: Hallo Bettina, danke, dass du dabei bist.

Bettina Tietjen: Hallo Nina, ich freue mich.

Nina Ruge: Unter Tränen gelacht. Ein Titel, der unter die Haut geht, finde ich. Viele Menschen, die mit Demenz konfrontiert sind, kennen Tränen. Sie kennen nicht unbedingt Lachen. Und du hast beides erfahren. Erzähl.

Bettina Tietjen: Ja, mir war das sehr wichtig, das eben beides miteinander zu vereinbaren. Das fällt einem ja schwer. Ist mir natürlich auch schwergefallen. Aber wenn man betroffen ist und hat einen Menschen an seiner Seite, der sich ganz sichtbar über Jahre verändert, dann ist das natürlich unheimlich bedrückend. Und man hat aber trotzdem immer wieder Momente, wo man denkt: Ach, eigentlich ist es ja jetzt gerade ganz lustig und eigentlich haben wir ja einen schönen Moment miteinander und können zusammen lachen. Und zehn Minuten später kann es sein, dass einem die Tränen kommen, weil man denkt: Mein Gott, ist das wirklich noch mein Vater? Was ist mit dem los? Wie kann der sich so verändert haben?

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Demenz – das Auf und Ab der Gefühle

Das ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle, wenn man mit einem dementen Menschen zusammen ist. Oder man sagt ja eigentlich „demenziell veränderten“ Menschen. Das ist eigentlich wichtig. Und das mal so auszudrücken und mal zu zeigen: Es ist eben nicht nur niederschmetternd und nicht nur deprimierend, sondern das Leben kann auch schön sein, wenn man sich auf die richtige Art und Weise annähert. Das war mir wichtig und da habe ich ganz lang überlegt, wie man da einen Titel finden könnte, der auch niemanden vor den Kopf stößt. Weil, jede Demenz verläuft anders. Jeder Mensch ist anders, jeder geht anders damit um. Und ich wollte auf gar keinen Fall, dass jemand denkt: Was soll das denn? Ich hab’s schwer genug. Und wie kann man denn überhaupt in so einer schrecklichen Situation lachen? Und da hab ich mich für dieses „Unter Tränen gelacht“ entschieden, weil ich glaube, dass es ganz gut ausdrückt, dass eben beides immer parallel passiert.

Nina Ruge: Dein Vater, fangen wir mal von vorne an, war ja pensionierter Architekt, lebte in Wuppertal und hat relativ spät so die ersten Anzeichen gezeigt. Wie war denn das? Was ging da in dir vor?

Bettina Tietjen: Ja. Sogar noch mehr betroffen war meine Schwester. Mein Vater lebte direkt zwei Häuser neben meiner Schwester in so einer Reihenhaussiedlung. Und sie war diejenige, die immer an ihm dran war und sich auch sehr um ihn gekümmert hat. Ihre ganze Familie, auch ihre beiden Töchter und ihr Mann und ich lebte ja nun in Hamburg, lebe ja immer noch in Hamburg, und ich habe ihn auch regelmäßig gesehen. Aber ich habe natürlich nicht so diese Kleinigkeiten, die ja so einen Beginn einer Demenz ausmachen, die waren mir ja gar nicht so klar. Und meine Schwester sagte dann so: „Ja, der Vati ist irgendwie so komisch. Ich hab einen Haustürschlüssel im Tiefkühlschrank gefunden und dann lässt er immer Essen verschimmeln…

„Das waren alles so Anzeichen“

Wirklich die absoluten Klassiker. Was man immer wieder hört. Und dann sagte sie: „Er fährt auch andauernd zum Geldautomaten, er hat ein ganz merkwürdiges Verhältnis zum Geld bekommen. Er fährt fünfmal am Tag in die Stadt und hebt immer 20 Euro ab. Und dann kriegen wir immer die Knöllchen, weil er immer im Halteverbot direkt vor der Deutschen Bank parkt.“ Das waren lauter so Sachen, die wir komisch fanden. Unser Vater war immer ein bisschen skurril, muss man dazu sagen. Also er war schon so ein komischer Vogel. Er war so ein bisschen intellektuell, kam aus einem gutbürgerlichen Haus, hatte auch so ein kleines bisschen… so einen Dünkel, war sehr intelligent und auch manchmal ein bisschen arrogant und war so ein Einzelgänger. Das heißt, er war auch oft allein. Ja, und da war wurde er eben manchmal ein bisschen skurril. Und da haben wir erst mal gedacht: Naja, gut, er ist alt. Anfang 80 war er. Das ist ganz normal, eben dieses Tüddelige oder Verkalkte, wie man das so nennt.

Und ja, dann wurde das aber im Laufe der Zeit, also, ich würde mal sagen, es war bestimmt über einen Zeitraum von zwei Jahren, wurde es eben immer schlimmer. Und ich habe es dann auch festgestellt, wenn ich kam und ihn besucht habe oder wenn er mich besucht hat, dass da irgendwas komisch war. Also zum Beispiel kam er dann an aus Wuppertal im Auto, er fuhr immer im Auto. Mein Vater gehörte ja zu dieser Generation, die sagt, wenn wir sagten: „Vati, fahr doch mal mit dem Zug, das ist doch viel sicherer und viel bequemer.“, sagte er: „Da sitzen ja nur Rentner.“ Da war er schon über 80, muss man sagen. Er wollte unbedingt Autofahren, hat sich über dieses Autofahren sehr definiert. Dann kam er sechs, sieben Stunden, nachdem er in Wuppertal losgefahren war, was ja wirklich viel zu lang ist für diese Strecke. Und ich sage: „Was ist, wo warst du denn? Was ist denn los?“ „Ja, also ich musste zwischendurch ein paarmal aussteigen auf dem Standstreifen, man kann ja diese Autobahnschilder überhaupt nicht richtig lesen.“ Und dann dachte ich so: Also, das ist ja jetzt wirklich schon ein bisschen sehr merkwürdig, dass er auf der Autobahn aussteigt und anhält und die Schilder nicht lesen kann, was auf gar keinen Fall mit seinen Augen zu tun haben konnte, weil er hatte eine Grauer-Star-Operation gehabt und konnte sehr gut gucken.

Ja, und dann hat er in der Konversation nicht mehr richtig zugehört. Wenn wir hier beim Abendessen saßen, mit den Kindern, hat 100-mal dieselben Fragen gestellt und dann erzählte meine Schwester, dass er im Auto losfuhr und kam zurück und seine beiden Scheiben, die Autoscheiben, waren kaputt. Es war eine Riesenbeule vorne am Auto und er konnte nichts dazu sagen, wie das passiert war, wurde aber gleichzeitig aggressiv, wenn man ihn fragte, was los war. Also das waren alles so Anzeichen, wenn man da ein bisschen recherchiert hat… Damals war das ja längst noch nicht so bekannt wie heute, dieses Thema Demenz. Dass man sich aber Sorgen macht.

Da war meine Schwester mal beim Neurologen, bei einer Neurologin. Die hat dann diese klassischen Tests gemacht und hat gesagt: „Das ist noch so an Grenze. Das ist ein Grenzbereich. Ich würde sagen, Ihr Vater kommt noch ganz gut klar.“ Das fanden wir schon komisch. Und ein halbes Jahr später wurde so schlimm, dass wir dann nochmal zu einem anderen Neurologen gegangen sind. Und der hat dann gesagt: „Ganz klar Demenz vom Alzheimer-Typ.“ Und: „Sie sollten schon gucken, dass Sie Ihren Vater nicht mehr so lange alleine lassen. Also, er kommt nicht mehr so richtig klar.“ Obwohl er in dieser Befragung, im ersten Gespräch mit dem Arzt, wirklich vehement immer behauptet hat, dass er alles ganz alleine im Griff hat. Das ist ja auch total typisch. Der Arzt sagt dann: „Was haben wir denn für eine Jahreszeit?“ Dann sagte er, guckte er ihn so aggressiv an: „Sie sind doch Arzt. Das müssen Sie ja wohl selber wissen!“ Lauter solche Geschichten. Also das hat sich dann wirklich im Laufe der…

Wir haben dann eine Betreuung gesucht. Wir haben versucht, mit ihm zu sprechen, das ein bisschen zu thematisieren. In gewissen Lebensbereichen konnte man durchaus mit ihm noch auf einer intellektuellen Ebene sprechen. Und dann haben wir versucht, mal zu sagen: „Merkst du eigentlich, dass in deinem Kopf… merkst du eine Veränderung?“ Das Wort Demenz haben wir immer versucht zu vermeiden, weil wir dachten, vielleicht verletzt ihn das. Aber dann hat er total abgeblockt und das kam dann so ganz allmählich, dass er da mal so Sachen sagte wie: „Ich glaube, ich verliere gerade meine Koordinaten“.

Das verlorene Selbstbild

Oder er hat mal so einen Satz gesagt: „Manchmal bin ich mir gar nicht mehr im Klaren darüber, um wen es sich bei mir eigentlich handelt.“ Solche Sachen sagte er dann. Dann haben wir gemerkt, er merkt es selbst auch. Er versucht es zu verdrängen, aber er merkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt.

Nina Ruge: Ja, aber irgendwann habt ihr ihn ja, wenn ich das richtig gelesen habe, ja richtig entführt ins Seniorenheim, in eine Demenz-Abteilung nach Hamburg. Also auch den Ort gewechselt. Das war ja ein irrer Schritt für alle. Wie ging es ihm damit? Wie ging es euch damit, deiner Schwester und dir?

Bettina Tietjen: Ja, das war natürlich ein ganz schwerer Schritt, der sich ja auch entwickelt hat über einen gewissen Zeitraum. Wir haben erst mal so stundenweise Betreuung für ihn engagiert. Nachdem er das so halbwegs akzeptiert hatte und es schlimmer wurde, haben wir dann zwei osteuropäische Pflegerinnen engagiert, die dann rund um die Uhr bei ihm waren, weil das wirklich nötig wurde. Und da hat er sich auch erst total dagegen gesträubt.

Und dann passierte eben ein Zwischenfall mit dieser einen Pflegerin. Die war total betrunken. Und mein Vater hat dann – die lag da praktisch komatös auf dem Boden im Wohnzimmer und hatte sich übergeben – und mein Vater hat dann die Nachbarin zur Hilfe gerufen. Er wusste überhaupt nicht, was da los war. Er hat einfach nur geklingelt und, so plietsch (Redaktion: Plattdeutsch für „schlau“) war er noch, dass er gedacht hat, hier ist was nicht in Ordnung, hat die Nachbarin geholt.

Und das war so der Moment, in dem es eskaliert ist. Meine Schwester war im Urlaub. Wir hatten schon wirklich Monate vorher immer Altenheime angesehen und überlegt, sogar schon ein Jahr vorher überlegt: Wenn es mal nötig sein sollte, müssen wir ja reagieren können. Und dann haben wir es immer vor uns hergeschoben. Wir hatten auch eine Pflegestufe beantragt, er hatte schon Pflegestufe 1, aber wir haben das immer vor uns hergeschoben, weil wir es auch irgendwie nicht übers Herz gebracht haben. Wir haben gedacht: Das geht doch noch. Mit den Pflegerinnen, das kriegen wir hin.

„Man möchte es ja alleine in den Griff kriegen“

Und man will es ja nicht. Man möchte ja den eigenen Vater nicht weggeben. Man möchte es ja alleine in den Griff kriegen. Und dann passierte das. Und dann hab ich ihn eingepackt und zwei Koffer gepackt, ins Auto gesetzt. Und mir kamen die Tränen, meinem Mann kamen die Tränen und mein Vater guckte so aus dem Fenster und sagte: „Ach, das ist ja hübsch hier!“ Im Bergischen Land, Wuppertal ist da, er hat nie woanders gelebt, guckt also: „Ist ja schön hier. Ich glaube, hier war ich noch nie“.

Und da hab ich gedacht, das soll jetzt vielleicht auch so sein, dass er überhaupt noch nicht einmal mehr realisiert, dass das hier seine Heimat ist. In diesem Moment. Ja, und dann haben wir ihn mitgenommen. Und dann war das natürlich ein langer Prozess. Also, das ist jetzt nicht so: Man gibt seinen Vater im Altenheim ab auf der Demenz-Station und damit hat sich die Sache. Das ist natürlich ganz und gar nicht so. Sondern man ist permanent involviert.

Ich hatte am Anfang – ich hatte erst ein schlechtes Gewissen. Ich dachte, ich muss mich permanent kümmern. Ich war immer da, von morgens bis abends und hab geguckt, wie kommt er klar. Und er war eigentlich von Anfang an relativ genügsam. Immer wenn es etwas zu essen gab, hat sich seine Laune aufgehellt. Und ansonsten war das Komische nur, dass er offensichtlich dachte, wir wohnen da beide. Und das hat es mir natürlich nicht leichter gemacht. Immer wenn ich gesagt hab: „So, Vati, jetzt muss ich aber mal gehen“, sagt er: „Wieso? Wohin denn?“ Ich habe gesagt: „Ja, ich muss doch mal nach Hause.“ Da sagt er: „Wieso, wir sind doch hier zu Hause.“ Also, man muss dazu sagen, er sagte das nicht so, wie ich das jetzt sage, sondern er sprach ja gebrochenes Deutsch. Das war ja so ein Phänomen. Seit er diese osteuropäischen Pflegerinnen hatte, die immer so sprachen: „Opa sitzen, Opa müde, Opa Bett. Opa essen?“, so sprachen sie, konnten sich verständigen, aber nicht so gut. Hat er das schon nach ein paar Wochen komplett übernommen, diese gebrochene Sprache, der hat gar nicht mehr anders gesprochen, mein Vater. Bis zu seinem Tod, obwohl er dann ja Jahre nicht mehr mit diesen Pflegerinnen zu tun hatte. Es waren ja noch zweieinhalb Jahre, die er dann in diesem Heim gewohnt hat.

„Wer ist das denn da im Spiegel?“

Ja, da hab ich gedacht: Okay. Habe ihm das immer wieder erklärt und ich habe dann auch wirklich eine ganze Weile gebraucht. Und dann muss ich sagen, hat dieses Altenheim eine sehr, sehr gute Arbeit gemacht. Die haben eine ganz tolle Angehörigen-Betreuung gehabt. Die haben mir dann erklärt, dass es verkehrt ist, immer zu sagen: Nee, das stimmt doch gar nicht, was du gerade sagst. Nee, du bist doch hier im Altersheim. Nee, du bist nicht zu Hause und ich bin auch nicht… Er hat sich dann auch manchmal vertan, wie ich nun heiße. Es gab auch so Momente. Da gucken wir in einen Spiegel, wir sind im Aufzug gefahren, da war so ein Spiegel, da gucken wir in den Spiegel und ich sage; „Wir sehen gut aus, Vati.“ „Sehr gut. Sehen sehr gut aus.“ Was hat er immer gesagt? „Sehr ordentlich. Sehr ordentlich.“ Und dann hab ich gesagt: „Wer ist das denn da im Spiegel?“ Und dann hat er sich angeguckt und hat gesagt: „Du.“ Also er kam durcheinander. Wer er ist und wer ich bin. So. Das waren ganz verrückte Momente.

Nina Ruge: Aber du erzählst das jetzt mit so einer Leichtigkeit, mit so einer Heiterkeit auch. Wie hast du dich denn überhaupt in den Umgang mit dem Vater, der sich so verändert hat, überhaupt eingegroovt? Man muss sich doch selber verändert haben. Du musst ja auch gelernt haben, denke ich, mit einem Mann, mit einem Vater, zu dem du ja als Kind aufgeschaut hast, jetzt plötzlich ganz, ganz anders zu sein und ihn ganz anders anzusprechen. Lief das so einfach?

Bettina Tietjen: Ja, das war schwierig. Musst dir ja vorstellen, es ist ein langer Zeitraum gewesen von dem Moment, wo man sagt – was stimmt nicht mit unserem Vater – zu dem wir immer aufgeguckt haben, mit dem man über alles sprechen konnte, bis zu dem Moment, wo mir klar war, ich bin jetzt hier die Betreuerin. Mein Vater ist nicht mehr, hat nicht mehr diese Vaterfunktion. Ich bin die, die sich jetzt um ihn kümmern muss. Und meine Schwester. Wir sind diejenigen, die ihn betreuen und die ihm sagen, wo es langgeht. Das geht ja nicht von heut auf morgen, sondern es geht ganz allmählich. Aber es gibt Leute, das hab ich in vielen Gesprächen eben festgestellt, die diesen Schritt nicht machen können. Die wollen das nicht wahrhaben. Die sagen: Aber, das kann nicht sein, dass dieser Mensch, der immer so war, auf einmal anders ist und auf einmal sich so verändert, dass unser Verhältnis sich verschiebt. Und das muss man einfach irgendwann akzeptieren. Und das Schöne bei unserem Vater war eben, dass ich vor allen Dingen in dieser Zeit, wo er dann so nah bei mir war, wo ich ihn fast täglich gesehen habe, dass er so eine Emotionalität entwickelt hat.

Er war eigentlich ein total kopfgesteuerter Mensch, ganz rational, auch sehr streng mit sich, auch sehr religiös. Und der hat so eine… so eine Leichtigkeit selber gekriegt. Er hat so gerne, so viel gelacht. Er war ganz ausgelassen und war auch so… hat immer so versaute Witze gemacht und so, so… war so ungehorsam. So ungezogen war er, so ein bisschen hemmungslos. Das waren alles Sachen, die ich überhaupt nicht kannte von meinem Vater, die mich erst total geschockt haben. Ich dachte: Was ist mit dem auf einmal los? Ich gehe mit dem durch den Wald. Da überholt uns eine Joggerin und der zeigt mit dem Finger auf die und ruft ganz laut: „Dicker Arsch!“ Und ich so: „Vati!“

Und damit muss man erstmal zurechtkommen, mit solchen Situationen. „Vati, das sagt man nicht.“ „Warum? Warum nicht? Stimmt. Stimmt doch.“ Und das waren einfach so Momente, wo man gleichzeitig schockiert war und sich geschämt hat, aber trotzdem lachen musste. Und ich hab halt immer mehr gelernt: So ist der jetzt. Und ich nehme das so. So ist er. Ich werde ihn nicht mehr ändern können. Aber er macht ja einen ganz zufriedenen Eindruck.

Nina Ruge: Naja, und man kennt dich ja auch. Ja, man kennt dich ja nun wirklich und du bist mit ihm ja auch in die Öffentlichkeit gegangen.

Bettina Tietjen: Ja.

Nina Ruge: Also kann man sagen, dass du ihn wirklich so abgeholt hast in dem Zustand, indem er geistig war und dich total drauf eingelassen hast? Was hast du alles mit ihm gemacht, ganz konkret?

Bettina Tietjen: Ich hab immer mit ihm das gemacht, wovon ich das Gefühl hatte, dass ihm das gerade gut tut. Also wir haben am Anfang, als das noch ging, haben wir viel gespielt. Wir haben so kleine Wissensspiele gespielt: Stadt, Land, Fluss. Wir haben Memory gespielt. Das haben wir dann irgendwann mal andersherum gespielt.

„Man sollte immer versuchen, das, was noch da ist, zu trainieren und frisch zu halten“

Nina Ruge: Darf ich dich da kurz unterbrechen? Ist das nicht auch tatsächlich eine therapeutische, wichtige Aktion, dass man versucht, die Kognition, die noch da ist, auch weiterhin zu trainieren?

Bettina Tietjen: Das, glaube ich, ist ganz wichtig. Das, was doch da ist. Man sollte immer versuchen, das, was noch da ist, zu trainieren und frisch zu halten. Also das, was noch möglich ist. Und ich habe immer festgestellt, dass da eine ganze Menge möglich ist. Also es ist viel mehr möglich, als man denkt. Nur weil jemand mal ein bisschen verquer guckt und vielleicht auch mal ein bisschen apathisch da in der Ecke sitzt und von sich aus nichts mehr macht und sagt, heißt das ja nicht, dass das nicht trotzdem möglich ist. Man muss sich halt die Zeit nehmen, man muss gucken, wie man denjenigen aktivieren kann.

Nina Ruge: Es ist unglaublich, mit welcher Beobachtungsgabe, mit wie viel Zeit und mit wie viel Empathie du deinen Vater begleitet hast. Wann hatte das angefangen, dass du dich dann in der deutschen Alzheimer Gesellschaft engagiert hast? Denn aus der Perspektive heraus musst du ja wahrscheinlich über dich selber sagen: Mensch, da kann ich mich echt loben. Ich glaube, ich habe ganz, ganz viel richtig gemacht im Umgang mit meinem Vater.

Bettina Tietjen: Ja, das würde ich niemals sagen, richtig und falsch gibt es ja nicht. Jeder Mensch ist ja anders. Nein, ich glaube es gibt auch Leute, das hab ich auch in Gesprächen festgestellt, wenn das zum Beispiel der Ehepartner ist. Wenn du dein Leben lang, 50 Jahre, verheiratet warst und jede Minute zusammen verbracht hast und immer glücklich warst und dann wird der Mensch so. Erkennt dich dann auf einmal nicht mehr und wird auf einmal ein ganz anderer. Dass man daran verzweifeln kann und nicht mehr in der Lage ist zu sagen: Ich lass mich darauf jetzt einfach ein, ganz egal. Er kennt mich nicht mehr, aber irgendwie kriegen wir die Zeit schon rum. Das kann ich auch verstehen, dass das vielleicht nicht geht. Also, ich hab… ich hab versucht, aus dem Bauch heraus – und meine Schwester hat das auch genauso gemacht – aus dem Bauch heraus meinem Vater immer auf Augenhöhe abzuholen. Das hat sich natürlich alles mit dem ganzen Engagement durch das Buch ergeben. Also es hat sich dann… ich hab ja viele Lesungen gemacht und wurde dann immer mal angesprochen auch von Zweigstellen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, ob ich da vielleicht auch mal vor einem Kreis…

Nina Ruge: Das war dann nach dem Tod deines Vaters.

Bettina Tietjen: Das war alles nach dem Tod. Das Buch war auch nach dem Tod.

Nina Ruge: Ja, vielleicht schauen wir uns das mal an. Was hast du eigentlich für Hilfe bekommen? Du hattest mal gesagt, du hattest Pflegestufe 1 beantragt und du hast dann eben auch natürlich in dem Heim, mit der Demenz-Station, mit den betreuenden Ärzten bzw. Therapeuten gesprochen. Aber wie würdest du heute zurückblickend die Unterstützung, die deine Schwester und du bekommen habt, wie würdest du das einordnen, auch mit dem Wissen, das du jetzt hast? Wo hätte es besser sein können?

Pflegestufen

Bettina Tietjen:  Also wir hatten großes Glück, muss ich sagen, bei der Pflegeberatung der Stadt Wuppertal. Da hat uns der Neurologe hinverwiesen und da hatten wir einen ganz tollen Mann, der hat uns so geholfen. Das geht ja schon los mit der Pflegestufe. Er hat gesagt: „Machen Sie das mit der Pflegestufe. Wenn Sie einen Heimplatz wollen, brauchen Sie Pflegestufe. Machen Sie das prophylaktisch.“

Wir haben natürlich gar keine gekriegt, weil wir auch da alles falsch gemacht haben. Unvorbereitet kam dieser medizinische Dienst. Und dann stand mein Vater da und hat natürlich permanent behauptet, dass er alles alleine kann. Meine Schwester war kurz vorm Weinkrampf, er konnte ja gar nichts mehr alleine. Und dieser medizinische Dienst, das war wirklich, also menschlich war das wirklich eine Niete, dieser Typ, dem war nur daran gelegen, möglichst keine Pflegestufe rausgeben zu müssen. Wollte halt sparen. Und er hat dann gesagt: „Nee, also sorry, jemand, der noch Auto fährt und der hier alles alleine kann… Dann kriegen sie keine Pflegestufe.“

Ja und dann haben wir uns eben Hilfe geholt und haben dann festgestellt, es hätte durchaus die Möglichkeit gegeben, sich jemanden zur Seite zu holen, der sich damit auskennt und der dann weiß, wie man welche Fragen beantwortet. Das haben wir dann bei meinem Schwiegervater Jahre später richtig gemacht. Also damit ging es los. Und dann haben wir geguckt: Was gibt es für Betreuungsmöglichkeiten? Das war schwer damals rauszufinden. Wenn wir diesen Pflegeberatungsmenschen nicht gehabt hätten, wären wir total hilflos gewesen und überfordert auch mit der Finanzierung dieser Betreuung. Die kriegst du ja gar nicht ohne Weiteres finanziert.

Mittlerweile ist es einfacher, weil es ja diese neuen Pflegestufen gibt und es gibt einfach viel mehr Stellen, an die man sich wenden kann. Also, das hätten wir uns damals auch gewünscht. Und ich finde heute ist es einfach schon durch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, die es ja damals auch schon gab, die aber jetzt heute viel besser vernetzt ist und durch viele, viele Angebote auch von den Ministerien, von Krankenkassen, von Kirchengemeinden, anderen Stellen,… Es reicht ja, du hast eine Anlaufstelle und hast da jemanden, der dir weiterhelfen kann. Der gibt dir wieder einen Tipp, wo du dich weiter hinwenden kannst und dann kannst du selber ein Netzwerk aufbauen. Aber viele Menschen trauen sich gar nicht. Die… die denken – und das ist auch so eine Sache, die bei Demenz so wichtig ist.

„Es ist ganz normal, dass man das nicht alleine schafft“

Die erzählen noch nicht mal. Die reden nicht mal drüber. Die sagen nicht mal, ich hab da… mein Mann oder mein Vater oder meine Mutter… Ich kriege das nicht mehr alleine hin. Die sind so komisch geworden und ich schaff das einfach nicht mehr mit der ganzen Pflege. Und dann soll ich auch noch reden und dann läuft er immer weg. Also das sind so… da kann man sich und sollte man sich auch Hilfe holen und dann, wenn man dann die richtigen Menschen hat, mit denen man sprechen kann, das können auch Angehörige sein, das können Fachkräfte sein, da gibt’s ja ganz viel Möglichkeiten, dann merkt man nämlich, es ist kein Fehler zu sagen: Ich schaffe es nicht. Es ist nicht schlimm. Es ist ganz normal, dass man das nicht alleine schafft. Und man tut sich und auch dem dementen Angehörigen überhaupt keinen Gefallen, wenn man meint, man muss das alles alleine machen. Im Gegenteil. Ich habe immer gesagt, ich habe festgestellt, schon relativ schnell durch diesen Schritt, den Vater ins Heim zu geben, dass, wenn einem dieses ganze Belastende, diese ganze Pflege, dieses ganze schwere Körperliche, wenn einem das abgenommen wird, dann hat man nämlich auch noch die Kraft und die Liebe, die schönen Stunden miteinander zu verbringen.

Die braucht der andere ja genauso. Und wenn man am Ende seiner Nerven ist – das habe ich bei meiner Schwester auch gemerkt – und nur noch auf dem Zahnfleisch geht und gar nicht mehr weiß, wie man das überhaupt alles bewältigen soll, wird man auch ungerecht dem anderen gegenüber. Und dann ist nichts mehr mit Liedersingen und Spazierengehen und Gedichte aufsagen. Dann ist man froh, wenn man den Tag irgendwie über die Runden kriegt.

Brauchen wir ein Umdenken?

Nina Ruge: Und da du ja eben in den verschiedenen Organisationen, auch der Allianz für Menschen mit Demenz etc. aktiv bist, hast du ja einen schönen Überblick, was sich zum Positiven bei uns in Deutschland verändert hat, was Unterstützungsmöglichkeiten angeht. Was sind Vorschläge, die du immer noch in petto hast zu sagen, da müsste sich echt noch was drehen? Und vielleicht auch: Brauchen wir noch ein gewisses Umdenken? Du hast ja eben auch schon eine Tabuisierung angesprochen, dass sich viele immer noch nicht trauen. Wo können wir da jetzt noch die vielen, vielen Menschen, die mit der Thematik konfrontiert sind – wie können wir die noch besser unterstützen?

Bettina Tietjen: Ich glaube einfach, es muss noch viel mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Also man sollte noch viel mehr auch in Fernsehsendungen, in Radiosendungen, in Zeitungen, viel mehr über das Thema berichten. Also man müsste flächendeckend das Thema noch viel mehr bekanntmachen und eben auch bekanntmachen, wo man sich Hilfe holen kann. Also dass die Leute gleich wissen… Und deswegen finde ich diese Initiative Demenz Partner gut. Oder auch, es gab mal so eine Initiative über ein paar Jahre von den beiden Ministerien, Gesundheitsministerium und Familienministerium, lokale Allianzen für Menschen mit Demenz, dass die gezielt Initiativen gefördert haben, die in manchmal kleinster Form Angebote gemacht haben, was man mit seinen Angehörigen so… wie man so die Zeit rumbringen kann. Und das ist natürlich auch eine Sache des Geldes. Also das eine: Bewusstmachen, Information. Und das andere ist das Geld. Also ich finde auch, es müssen einfach mehr Fördergelder fließen, um auch Leute zu ermutigen.

Nina Ruge: Stichwort Ambulanzen. Die sind ja vor zehn Jahren noch gar nicht zu finden – oder wirklich sehr, sehr wenig zu finden – gewesen. Was hältst du davon? Hättest du die vielleicht in einem früheren Stadium der Erkrankung deines Vaters genutzt?

Neue Formen des Zusammenlebens

Bettina Tietjen: Hätte ich bestimmt genutzt. Aber man muss natürlich nur gucken, wie derjenige darauf reagiert. Also mein Vater hätte wahrscheinlich auch erstmal das nicht gewollt, aber das finde ich schon gut. Ich finde eben, das sehe ich ganz oft, man sagt ja immer: ambulant vor stationär. Das ist ja so ein Wunsch auch in der Politik. Aber das Ambulante, das ist natürlich… so eine stundenweise Hilfe, die bringt dich nicht weit. Wenn du rund um die Uhr… Ein Mensch, die meisten demenziell veränderten Menschen schlafen auch nicht mehr richtig… Also du bist 24 Stunden mit diesem Menschen beschäftigt. Es müsste in die Richtung gehen: Nicht mehr die klassischen Pflegeheime, sondern Demenz-WGs, vielleicht Mehrgenerationenhäuser, irgendwie eine Kombination aus Pflege und ärztlicher Betreuung und eben persönlichem privatem Engagement. Also man muss einfach Lebensformen finden, glaube ich, weil es immer mehr Menschen geben wird, die betroffen sind, Lebensformen, womit wir das irgendwie in den Griff kriegen. Und dafür brauchen wir leider auch Geld.

Nina Ruge: Worüber wir überhaupt gar nicht geredet haben, das ist die Überlegung, ob es irgendeine Therapie für ihn gegeben hätte oder irgendeine Möglichkeit, den Fortschritt der Erkrankung zu verlangsamen. Habt ihr euch überhaupt darüber Gedanken machen können? Gab es da Möglichkeiten und wurdet ihr beraten in Sachen: Wie kann man mit einem Demenzpatienten so umgehen, dass er eventuell noch eine etwas bessere und längere Lebenszeit hat?

Bettina Tietjen: Also, er hat durchblutungsfördernde Mittel bekommen, aber ansonsten medikamentöse Behandlung haben wir nicht bekommen. Also ich werde nie vergessen, wie der Neurologe sagte, bei einem der ersten Besuche bei ihm: „Sie dürfen nicht vergessen, Ihr Vater ist über 80.“ Er hat nämlich immer eigentlich so gelebt, wie man es immer liest. Du kannst ja immer lesen, was man vorbeugend tun sollte: viel Bewegung, keinen Alkohol, nicht rauchen, regelmäßige Ernährung, also eigentlich alles das, was man sagt, das ist eigentlich gut, wenn man vorbeugen will – das hat er ja alles gemacht.

„Wenn das sehr spät anfängt, dann hat es vielleicht auch damit zu tun, dass man vorher so gelebt hat, um es zu verlangsamen“

Aber dann sagt der Arzt: „Ja, aber überlegen Sie mal, Ihr Vater ist über 80. Wenn er das nicht alles gemacht hätte, dann wäre das viel, viel früher gekommen mit der Demenz.“ Er meinte: „Stellen Sie sich mal vor, die Demenz, das ist ein Eisberg. Ein riesiger Eisberg. Und der schmilzt ganz langsam. Bei Ihrem Vater ist gerade oben so eine kleine Kappe, die hat angefangen zu schmelzen und bei anderen Leuten wäre überhaupt nichts mehr da von diesem Eisberg.“ Also so muss man das einfach auch sehen. Wenn das sehr spät anfängt, dann hat es vielleicht auch damit zu tun, dass man vorher so gelebt hat, um es zu verlangsamen. Ach so, eines muss ich noch sagen: Was ich glaube, was aber auch wichtig ist, um vielleicht Demenz zu verhindern oder zu verzögern, ist das Sozialleben. Also mit anderen Menschen – Kommunikation – sich mit anderen Menschen umgeben, viel mit anderen Menschen reden, lachen, schöne Zeit haben, in Gesellschaft sein. Und das hat mein Vater nicht gemacht. Mein Vater war ein Einzelgänger, der war nur in seiner Gemeinde und mit seiner Familie zusammen. Ansonsten hat er freiwillig, weil er es auch wollte, viel Zeit allein verbrachte.

Nina Ruge: Aber mit dir, über die vielen Jahre, am Ende war er überhaupt nicht einsam, hab ich den Eindruck.

Bettina Tietjen: Nee, da war er überhaupt nicht einsam. Aber da war das Kind ja auch schon in den Brunnen gefallen (lachen). Da war´s ja zu spät.

Nina Ruge: Und jetzt ganz zum Schluss: Aus deiner Perspektive derjenigen, die sich sehr mit der Alzheimer-Erkrankung und Demenz beschäftigt hat: Was wäre aus deiner Sicht heute noch für all die, die in der Gefahr sind, eine Demenz entwickeln zu können oder eben schon dabei sind, was wäre für dich noch präventiv? Das Wichtige, was vielleicht im Augenblick noch vernachlässigt wird.

Bettina Tietjen: Also, ich glaube, das Reden ist wichtig. Also Austausch miteinander. Wenn man merkt, mit mir stimmt was nicht. Sowohl, wenn ich merke und mir stimmt was nicht, irgendwas ist komisch. Und wenn die Angehörigen das merken, das nicht verdrängen und nicht wahrhaben wollen, sondern gucken, dass man miteinander darüber spricht. Sowohl der Betroffene als auch die Angehörigen. Dass man aber auch schnell guckt: Wo kann ich mich vielleicht mit Menschen zusammentun, denen es ähnlich geht und darüber reden und vielleicht gemeinsam Lösungen finden. Und dann glaube ich natürlich auch, dass alles, was medikamentös, was in der Forschung ist, es verändert sich ja permanent – es gibt ja immer wieder neue Wege und Möglichkeiten, damit auch medikamentös umzugehen – dass man das alles nutzt. Ich würde es alles nutzen. Und ich würde natürlich auch die ganze Ernährungsmedizin, die ja seit Jahren immer mehr auch ernst genommen wird, würde ich versuchen auch dafür zu nutzen und zu sagen: Welche Lebensmittel sind gut fürs Gehirn, was schadet? Und das würde ich alles mit einbeziehen im Umgang mit dem Menschen.

Nina Ruge: Ja klar. Ja klar, du hast einen Riesenbogen geschlagen. Vielen, vielen Dank, dass du uns mitgenommen hast, uns Hörerinnen und Hörer und mich. Als letzte Frage: Wie hast du dich verändert in dieser Zeit mit deinem Vater?

Bettina Tietjen: Ich glaube, dass ich gelernt habe, sehr viel bewusster den Moment zu leben. Also, das ist wirklich das, was ich von meinem Vater gelernt habe. Nicht mehr irgendwas vorzunehmen und zu sagen: Das mache ich jetzt so, das mache ich jetzt so. Sondern zu sagen: Ich gehe jetzt da hin, ich guck meinem Vater in die Augen und lass mich auf den Moment ein und versuche nicht immer dem hinterherzulaufen, der er irgendwann mal war, sondern nehme ihn so an, wie er jetzt im Moment ist. Und das gilt nicht nur für den Umgang mit meinem Vater, sondern das kann man auch übertragen auf den Umgang mit ganz vielen anderen Menschen und mit sich selbst und mit dem Leben überhaupt.

Nina Ruge: Hmm, von dir gibt es ganz viel zu lernen. Vielen, herzlichen Dank, Bettina, es war eine wirklich wunderbare Reise durch das Leben mit Tränen und mit Lachen mit deinem Vater. Danke sehr. Tschüss. Mach’s gut.

Bettina Tietjen: Ja, du auch, Nina!

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