Wunderwerk Autophagie

Was alt oder kaputt ist, werfen wir beim Aufräumen in einen Müllbeutel oder die Tonne. Einzelteile oder Rohstoffe werden dann so weit wie möglich wiederverwertet – aber zumindest wird ihre Verbrennungsenergie genutzt.

Solche Recycling-Prozesse beherrscht die Natur in Perfektion: Sie gibt nichts verloren und gewinnt in Kreisläufen große Teile der Ausgangsstoffe zurück. Auch unser Körper hat ein solches Recyclingprogramm: die Autophagie oder auch Autophagozytose. Genauer gesagt, läuft das Programm in unseren Zellen ab. Mit Autophagie räumen sie sich selbst auf und beseitigen Altes oder Fehlerhaftes. Das gibt ihnen neues Baumaterial und neue Energie, hält sie funktionstüchtig und schützt den gesamten Organismus vor Krankheiten.

Selbstdemontage als Schutz

Selbstdemontage als SchutzDer Begriff Autophagie oder Autophagozytose ist aus dem Altgriechischen abgeleitet und bedeutet so viel wie „sich selbst verdauen“. Die Zelle demontiert zu ihrem Selbstschutz eigene Strukturen. Für die Aufschlüsselung des Prozesses gab es bereits zwei Nobelpreise. Den ersten bekam 1974 der Belgier Christian de Duve für die Entdeckung der Lysosomen: Das sind mit Enzymen gefüllte Zellbestandteile, die zelleigenes und auch zellfremdes Material verdauen. De Duve prägte auch den Begriff Autophagie. Was genau in der Zelle vor sich geht und was das für die Gesundheit des menschlichen Organismus bedeutet, das beschrieb der Japaner Yoshinori Ohsumi. Er bekam dafür 2016 den Nobelpreis.

Wie der Mensch bei der Müllentsorgung benutzt auch die Zelle eine Art Müllbeutel, um sich durch Selbstreinigung von unnötigem Ballast zu befreien. Den stellt sie immer wieder neu her und sammelt darin alles, was ihr schaden könnte, fehlerhaft, alt oder kaputt ist. Dann vereinigt die Zelle diesen „Müllbeutel“ mit einem Enzymcocktail. Dieser zerlegt den gesammelten „Zellmüll“ in seine Einzelteile. Aus diesen Einzelteilen gewinnt die Zelle Energie oder baut damit neue Strukturen auf.

Zur Beseitigung schädlicher, fehlerhafter, alter oder geschädigter Strukturen aktiviert die Zelle einen Stoffwechselprozess, der Autophagie oder Autophagozytose genannt wird. Dafür lässt sie im Zellinneren eine Doppelmembran wachsen, die gezielt die entsprechenden Eiweiße, Lipide, Teilstücke oder ganze Zellstrukturen (beispielsweise geschädigte Mitochondrien) einfängt und umschließt – es entsteht ein Autophagosom. Das Autophagosom verschmilzt mit einem Lysosom (ein zellulärer Behälter, gefüllt mit Enzymen) zu einem Autophagolysosom. Dessen Enzyme zerlegen die eingefangenen Strukturen in ihre Bausteine. Sie werden an das Zellinnere abgegeben und stehen damit wieder für den Bau von Komponenten zur Strukturbildung oder Energieversorgung zur Verfügung. Nach getaner Arbeit verdaut sich das Autophagolysosom selbst.

Gleichgewicht zwischen alten und neuen Strukturen

Mit der Autophagie stellen unsere Zellen ein Gleichgewicht zwischen alten, beschädigten und neuen Strukturen her. Sie ist eine Art zelleigene Überlebensstrategie und die Abkürzung zur Zellerneuerung. Da sie innerhalb der bestehenden Zelle abläuft, ist sie schneller als die Neubildung ganzer Zellen und Organstrukturen. Die Fähigkeit zur Autophagie ist vor allem für sehr langlebige Zellen in hoch spezialisierten Geweben wie dem Gehirn oder dem Herzen wichtig. Denn wer länger lebt, produziert auch mehr Abfälle. Ohne reibungslose Entsorgung häuft sich der Abfall allmählich zu störenden Müllbergen an. Eine funktionierende Autophagie beugt diesen Müllbergen in der Zelle vor. Sie ist wie Anti-Aging für den Körper und schützt ihn vor altersbedingten Erkrankungen. Mit ihrer Fähigkeit, Krankheitserreger oder Fremdeiweiße unschädlich zu machen, die in die Zelle eingedrungen sind, hat sie zudem eine wichtige Rolle in der Immunabwehr.

Aktivierung der Autophagie durch Fasten

FastenDie Selbstreinigung der Zelle mithilfe der Autophagie läuft insbesondere dann auf Hochtouren, wenn der Bedarf des Körpers an Nährstoffen größer ist als seine Versorgung über die Nahrung. Dann greift er auf Energiereserven in seinen eigenen Zellen zurück. Die Zellen bauen ab, was sie nicht mehr brauchen, um ihr Überleben zu sichern – und befreien sich durch diesen „Hausputz“ auch von Abfall, der potenziell krankmachen kann. Diese Situation kann aktiv durch Sport und vor allem durch Fasten herbeigeführt werden. Die Erkenntnis entspricht dem Begriff „Heilfasten“, der dem bewussten Verzicht auf Nahrungsaufnahme eine „reinigende“ Wirkung zuschreibt. In jüngster Zeit hat sich das Intervallfasten zum Ernährungstrend entwickelt. Dabei wird bewusst für einen mehrstündigen Zeitraum auf Nahrungsaufnahme verzichtet. Intervallfasten regt den Körper an, auch mithilfe der Autophagie auf eigene Energiereserven zurückzugreifen – und damit seine Zellerneuerung zu aktivieren.

Mit zunehmendem Alter schwindet jedoch die Fähigkeit des Körpers zur Autophagie. In jüngster Zeit wird die damit nachlassenden Selbstreinigung der Zellen mit altersbedingten Krankheiten wie Krebs, der Ansammlung von Amyloid-Plaques bei Demenz sowie Herz– und Lebererkrankungen in Verbindung gebracht. Die Ankurbelung des Selbstreinigungsprozesses durch Fasten und Intervallfasten gilt als wirksames Mittel, nicht nur gegen den Alterungsprozess selbst. Die damit einhergehende Verlängerung der gesunden Lebensspanne kann auch altersgedingten Erkrankungen vorbeugen.

Alternativen zum Fasten

Als Alternative zum Kaloriendefizit durch längere Fastenperioden oder Intervallfasten befasst sich die Wissenschaft derzeit mit sogenannten Caloric Restriction Mimetics (Kalorienrestriktionsmimetika). Diese körpereigenen Substanzen schalten die zelluläre Autophagie ein, ohne dass der Körper tatsächlich fastet. Die vielversprechendste ist das Polyamin Spermidin. Als natürlicher Bestandteil unserer Zellen werden zwei Drittel des Spermidin-Bedarfs von unseren Körperzellen selbst produziert, der Rest über die Ernährung aufgenommen und von Darmbakterien hergestellt.

Spermidin ist die bisher einzig bekannte natürliche und körpereigene Substanz, die nachweislich Autophagie auslösen kann.

Dieser Fasteneffekt und das altersbedingte Nachlassen der Konzentration von Spermidin in den menschlichen Zellen hat das Interesse der Wissenschaft geweckt. Zahlreiche Studien weltweit untersuchen seine Wirkung und Einsatzmöglichkeiten zur Prävention altersbedingter Erkrankungen. Wegen seines gesundheitsfördernden Effekts und der möglichen Verzögerung neurodegenerativer Erkrankungen wurde Spermidin von Wissenschaftlern zur bedeutsamen Anti-Aging-Substanz gewählt. Die vielversprechenden Studienergebnisse der letzten Jahre zeigen das große Potenzial von Spermidin unsere gesunde Lebensspanne zu verlängern.